Das "Vater unser" aus heidnischer und islamischer SICHT.)
Weshalb findet das christliche Hauptgebet "Vater unser" (Mt. 6,9-13 / Lk 11,2-4) auch bei hohen Eingeweihten der heidnischen Mystik, welche sich darum bemühen zwischen den Zeilen zu lesen, sowie bei Muslimen uneingeschränkten Zuspruch?
Mit "Vater" wird der persönliche und individuelle (= unteilbare) Aspekt des Absoluten angerufen in der nondualen Transzendenz (= "Himmel") jenseits aller räumlichen und zeitlichen Beschränkungen, wobei das Absolute nicht nur auf einen rein energetischen Aspekt reduziert wird, wie das heutzutage bei vielen Metaphysikern irrtümlicherweise üblich ist.Vater unser, der Du bist im Himmel,
Interessant ist, dass Christus durch den Plural indirekt darauf hinweist, dass er keineswegs der einzige Sohn Gottes ist. Zwar mag die nach-arianische und vedisch-hinduistische Sichtweise, wonach Christus zu Gottvater wie Brahma zu Vishnu steht, richtig sein, aber ebenso richtig ist auch die arianisch-islamische Sichtweise, wonach Gott keinen Sohn hat und niemals einen haben wird, es sei denn, man betrachtet absolut ALLE Menschen als Söhne und Töchter Gottes im übertragenen Sinne.
Das scheinbare Paradoxon dieser verschiedenen richtigen Sichtweisen rührt von den relativen Bezugssystemen her, welche in der niederen Exoterik strikt voneinander getrennt werden müssen, um synkretistische Verwirrungen zu vermeiden.
Die Bewusstseinsausrichtung auf das transzendente Absolute soll mit reiner, aufrichtiger Herzensandacht erfolgen, um dem Alltagsbewusstsein enthoben und dem unergründlichen Mysterium des Absoluten teilhaft zu werden. Das heidnisch-neuplatonische Erklärungsmodell der hierarchischen Hypostasenstufen kann hierbei zum näheren Verständnis hilfreich sein.geheiligt werde Dein Name.
Die transzendente Ewigkeit des Absoluten, welche immer nur im jetztigen Augenblick gegenwärtig ist, soll beständig als Emanation wirksam sein.Dein Reich komme.
Nicht "mein" Wille, sprich: meine durch die falsche Identifikation mit dem Relativen (Sanskrit Ahankara = "der Ich-Macher") hervorgerufene, vom Absoluten abgetrennte Wunschvorstellung soll Wirklichkeit werden, sondern der transzendente Wille des Absoluten, der sich unbewusst verborgen im tiefsten Innern eines jeden Wesens findet. Die dafür zuständige Hypostase wird auf Altgriechisch Nous (νοῦς) bezeichnet, was irrtümlicherweise auf Deutsch immer mit "Geist" übersetzt wird, obwohl Nous mit der niederen mentalen Ebene nichts zu schaffen hat. Treffender ist die Gemeinsamkeit mit Sanskrit Paramatma, der Überseele. Wenn man sich (mitsamt der Maske der falschen Identifikation mit dem relativen Räumlich-Zeitlichen) demütig der individuellen (= unteilbaren, untrennbaren) Überseele unterwirft, erhofft man sich, dass der Wille der Überseele geschehe - und zwar im Einklang mit dem transzendenten und kosmischen Willen des Absoluten.Dein Wille geschehe,
Doch die Willensemanation des Absoluten soll nicht allein in der transzendenten Nondualität jenseits von Raum und Zeit erfolgen, sondern auch in der räumlich-zeitlichen relativen Realität der Zweiheit, z.B. in der Immanenz der Materie, bei welcher es sich ebenfalls um eine göttliche Energieform handelt (weswegen die Verdammung der Gnostiker gegen die Materie unsinnig ist).wie im Himmel, so auf Erden.
Die alte vedisch-hinduistische Formel lautet im Einklang mit dem Neuplatonismus diesbezüglich: "Einheit in der Vielheit UND ZUGLEICH Vielheit in der Einheit". Das Eine darf in der Ganzheit dieses scheinbar paradoxen Mysteriums nicht vom anderen gesondert werden.
Wer sich demütig der individuellen Überseele und dadurch dem transzendenten Willen des Absoluten unterwirft, hat Anrecht auf die ihm in der Gegenwart zustehende Energiezufuhr in jedweder angemessenen Form, um als individueller Bestandteil der Ganzheit wirken zu können. "Allah sorgt für die Seinen." Auf dasselbe läuft auch Jesu Gleichnis mit den Lilien und den Vögeln hinaus.Unser tägliches Brot gib uns heute
Wie u.a. die Bhakti-Vedanta der Bhagavad-Gita lehrt, kann man durch die unterwürfige aktive Hingabe an das Absolute in der Gegenwart auf die augenblickliche Loslösung sämtlicher karmischer Verstrickungen und auf individuelles Gottesbewusstsein und Erleuchtung hoffen.und vergib uns unsere Schuld,
Sogar die Edda weist auf die karmischen Verstrickungen mittels der Norme Skuld (= Schuld, das "Gesollte") hin, welche die Fäden jener Begebenheiten knüpft, die man der Zukunft schuldig ist.
Dies ist der schwierigste, aber wahrscheinlich wichtigste Teil dieses ganzen Gebetes. Ausreichende Energiezufuhr seitens des Absoluten und vollständige Loslösung vom Karma darf nur erhoffen, wer seinerseits vollständig von ganzem Herzen allen bösen Menschen vergibt und schon im Voraus alles Schlechte vergibt, was jene noch zu tun beabsichten. Diese Lehre war im Kern bereits im heidnisch-germanischen und griechischen Ethos der Philanthropie angelegt, wurde im heidnischen Neuplatonismus kultiviert und ist der ursprüngliche Kerngedanke nicht nur des Christentums, sondern auch des Islams und des Hinduismus'.wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Wer nicht lernt, ALLEN bedingungslos zu vergeben und zu verzeihen, sondern innerlich Hass, Groll, Niedertracht, Neid oder Missgunst mit sich herumträgt, kann keine Erlösung finden und darf nicht auf Gnade hoffen. Es ist nicht nur so, dass man sich durch Hass kausal immer tiefer in schlechtes Karma verstrickt, sondern durch die individuelle Verbindung allen Lebens mit dem Absoluten fügt man ALLES, was man anderen Leuten antut oder wünscht, letztlich SICH SELBST zu.
Deshalb wurde früher in allen Kulturen der Welt sogar von Kriegern erwartet, dass sie niemals mit Hass oder Groll kämpfen oder töten, sondern mit Grossmut, Ehrfurcht und liebevoller Hingabe an das Göttliche und den Feind. Bei den alten Inka-Kriegern galt die Regel: Wer mit Hass ein Schlachtfeld betritt, hat bereits verloren.
ALLEM und JEDEM stets verzeihen zu können und sich dabei nicht von der falschen Identifikation mit der räumlich-zeitlichen Relativität hinabreissen zu lassen, ist eine dermassen schwierige Herausforderung, dass hierfür eine sonnenhafte, heroische Selbstüberwindung vonnöten ist. Die Heldenhaftigkeit Jesu am Kreuze kann aus heidnischer Sicht gar nicht hoch genug bewertet werden, wie er seinen Peinigern vergibt.
Mir ist nur ein einziges weiteres Beispiel für diese höchste Heldenhaftigkeit bekannt, das historisch verbürgt ist, nämlich bei Mahatma Gandhi. Als dieser grosse indische Heilige aus heiterem Himmel tödlich getroffen zusammenbrach, machte er gegenüber dem wildfremden Attentäter geistesgegenwärtig und lächelnd ein Segenszeichen, womit er ihm augenblicklich vergab und die karmische Verbindung durchtrennte. Daraufhin starb Gandhi mit seinem persönlichen heiligen Gebetsmantra "Rama" auf den Lippen. Eine solche geistesgegenwärtige Heldenhaftigkeit soll irgendeiner mal nachmachen!
Aber auch wenn wir keine Christusse und keine Gandhis sind, ist es sicherlich nicht schlecht, wenn wir uns zumindest darum bemühen, ALLEN von ganzem Herzen stets zu vergeben und zu verzeihen, gleichgültig wie gross ihre durch die Maske des falschen Egos begangenen Schandtaten und Verbrechen auch gewesen sein mögen.
Wir wollen uns nicht in den niederen Hypostasen mit der Relativität und der räumlich-zeitlichen Gebundenheit identifizieren.Und führe uns nicht in Versuchung,
Sondern wir wollen frei sein von der Anhaftung an die Matrix der Materia auf der untersten Hypostasenstufe, welche einzig durch das falsche Ego hervorgerufen wird.sondern erlöse uns von dem Übel.