Sehr schön, dass dieser wichtige Thread fortgeführt wird... Und wer da auch nicht fehlen darf ist natürlich die
Colonia Dignidad
Die Colonia Dignidad (spanisch für „Kolonie Würde“, offiziell Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad / „Wohltätigkeits- und Bildungsgemeinschaft Würde“) war ein vom Sektengründer Paul Schäfer im Jahr 1961 gegründetes befestigtes Siedlungsareal in Chile, das von seiner ebenso bezeichneten christlichen Sekte von Auslandsdeutschen bewohnt und betrieben wurde. Die Colonia Dignidad wurde unter anderem wegen der von Paul Schäfer betriebenen Unterdrückung der Bewohner und systematischen sexuellen Missbrauchs von
Jungen sowie während der Pinochet-Diktatur begangener Menschenrechtsverletzungen weltweit bekannt und kritisiert. Seit 1988 heißt die Anlage Villa Baviera („Dorf Bayern“).
Im Jahr 1956 gründeten der ehemalige evangelische Jugendpfleger Paul Schäfer und der aus der Gronauer Baptistengemeinde ausgeschlossene Prediger Hugo Baar in Heide bei Siegburg die „Private Sociale Mission“, ein Erziehungsheim für Kinder von Gruppenmitgliedern. Die Trennung von der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Gronau, bei der sich 35 von 93 Ehepaaren Paul Schäfer anschlossen, erfolgte zur Jahreswende 1959/1960. Ähnliches gelang Schäfer auch in Österreich: Dort liefen 30 Mitglieder der Grazer Pfingstgemeinde zu Schäfers namenloser Privatsekte über. Dabei wurden schriftliche – vom Beichtenden unterschriebene – Aussagen später gegen Beichtende in erpresserischer Weise verwendet.
Freitag, 29. April 1966 – Nr. 67 Kleine Zeitung 63./19. Jahrgang – Seite 5: Grazer Kinder in Chile zurückgehalten.
Von der Sekte des ehemaligen SS-Offiziers Schäfer von den Eltern herausgelockt Graz. – Seine drei Kinder, die im Dorf „Würde“ in Chile als Mitglieder einer religiösen Sekte lebten, versucht das Ehepaar Wilhelm und Mina Wagner aus Graz zurückzubekommen. Über die Vorgänge in diesem Dorf, das von dem ehemaligen SS-Offizier Paul Schäfer in Chile geleitet wurde, waren in letzter Zeit aufsehenerregende Einzelheiten bekannt geworden. Der Fall war sogar vor das chilenische Parlament gebracht worden, da
Prügelstrafen, Folterungen und Unzucht aller Art in dem Dorf an der Tagesordnung seien. Mehrere Mitglieder der Sekte sollen an den Folterungen gestorben sein. Wilhelm Wagner war 1958 von der Sekte angeworben worden, wonach die Familie, das Ehepaar und seine sechs Kinder, in das Lager Siegburg in der Deutschen Bundesrepublik übersiedelten. 1961 sei es, wie der Anwalt des Ehepaares mitteilte, dem stellvertretenden Lagerleiter Hugo Baar gelungen, dem Ehepaar die damals noch minderjährigen Zwillinge Edith und Irmgard – heute 20 Jahre alt – und den 1949 geborenen Wilhelm herauszulocken. Der Vater der Kinder hat eingewilligt, seinen Sohn im Lager Siegburg zurückzulassen, wenn er das Lager verlassen dürfte. Unter Drohung habe man später von Wilhelm Wagner die Einwilligung erzwungen, dass vier seiner Kinder, Emma, Willi und die Zwillinge Edith und Irmgard nach Chile auswandern durften.
Zeitungsartikel von Gerda Hardt-Stremayr: Grazer Kinder in Chile zurückgehalten
Wegen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Schäfer aufgrund von Anzeigen wegen Vergewaltigung von zwei Jungen floh er 1961 mit ca. 150 Mitgliedern der Gruppe nach Chile und gründete die Colonia Dignidad. Startkapital waren unter anderem 900.000 Mark, die er durch den (kurzfristigen?) Verkauf seines Erziehungsheims am Südrand des Standortübungsplatzes Wahn an die Bundeswehr erhielt. Ebenso flossen Renten von Gruppenmitgliedern ungeprüft auf sein Konto. Formales Gründungsdatum war der 26. Juni 1961. Offizieller Zweck war die Betreuung von Kindern, die durch das Erdbeben von Valdivia 1960 zu Waisen geworden waren. Ende des Jahres erwarb die Gemeinschaft allerdings das Gut El Lavadero rund 500 Kilometer nördlich des Erdbebengebiets. Im September 1961 erfolgte die Anerkennung der Gemeinnützigkeit. Schäfer versprach ein „
urchristliches Leben im gelobten Land“ und prophezeite eine angeblich drohende russische Invasion in Deutschland, um Zögernde und Ängstliche umzustimmen. Mit Falschaussagen und gefälschten Papieren entführte er zugleich Minderjährige nach Chile, deren Eltern ihre Erlaubnis zu einer angeblichen Chorfreizeit gegeben hatten. Autor Dieter Maier nennt dies „die größte Massenentführung in der Geschichte der Bundesrepublik“. In Deutschland und Österreich zurückgebliebene Eltern bemühten sich erfolglos, ihre Kinder wieder nach Hause zu holen.
Laut einem im Jahr 1966 aus der Kolonie geflohenen Jugendlichen, Wolfgang Kneese, mussten die Koloniebewohner Fronarbeit leisten und wurden scharf überwacht.Diese Berichte führten im gleichen Jahr zu ersten Ermittlungen chilenischer Behörden. Ein Prozess vor dem Appellationsgericht in Chillán verlief aber ergebnislos, da die Mitglieder der Colonia vorgaben, dass der Hauptbeschuldigte Schäfer die Gemeinschaft verlassen habe und verschollen sei. Im August 1967 wurden die Ermittlungen eingestellt.Parallel stellten Gesundheits-, Finanz- und Zollbehörden verschiedene Regelverstöße fest, die eine Verwirkung von Privilegien hätten nach sich ziehen können. In diesem Rahmen kam es sowohl zu juristischen Auseinandersetzungen als auch zu gewaltsamem Widerstand gegen Zollfahnder und zu einem Hungerstreik der Sekte. Dies alles führte zu einer zunehmend kritischen Berichterstattung in der chilenischen Presse und schließlich zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses in der Abgeordnetenkammer, der Ende 1968 aber die Vorwürfe größtenteils zurückwies. Auf weiter laufende Ermittlungen reagierte die Sekte damit, Ende Mai 1969 die Änderung ihrer Satzung zu beantragen. Danach gab es vorerst keine Untersuchungen und auch kaum noch eine Thematisierung der Colonia in der chilenischen Presse.
Neben millenaristischen Elementen und dem Bezug auf die Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde spielten in der Lehre auch pfingstliche Ansichten eine Rolle.
In Chile baute die Gruppe eine Kolonie auf, in der sie streng abgeschottet von der Außenwelt lebte und nur ausgewählte Besucher empfing. Die Siedler konnten lange Zeit fast autark leben, da sie ein „Mustergut“ aufgebaut hatten, für das sie viel Bewunderung ernteten. Trotz dieser Abschottung baute die Sekte durch Geschenke und Gefälligkeiten Unterstützernetzwerke auf, die sie gegen staatliche Ermittlungen und journalistische Recherchen abschirmte. Dazu gehörten Landarbeiter, Polizisten, Beamte und Lokalpolitiker in der Region. Die Führung hatte Kontakte zur rechtsextremen Gruppierung Patria y Libertad und unterstützte damit indirekt den Putsch des chilenischen Militärs am 11. September 1973. Dabei wurden unter Ausnutzung zollrechtlicher Vorteile Schusswaffen und Munition aus Deutschland über den Seeweg illegal nach Chile eingeschleust, die sowohl innerhalb des Komplexes wie auch durch Patria y Libertad Verwendung fanden. Bei den Waffen, die auf dem Gelände der Sekte gelagert wurden, handelte es sich unter anderem um Raketenwerfer und Granaten. Auch soll zwischen 1978 und 1980 das Giftgas Sarin in der Kolonie produziert worden sein.
Während der Militärdiktatur wurde die Kolonie zu einer Operationsbasis des Pinochet-Geheimdienstes Dirección de Inteligencia Nacional (DINA). Sie diente auch als Stützpunkt des Projektes „ANDREA“ (Alianza Nacionalista de Repúblicas Americanas / „Nationalistische Allianz amerikanischer Republiken“). Dieses Projekt war zur Zusammenarbeit lateinamerikanischer Nationalisten, Geheimdienstler und Antisemiten mit rechtsextremer Stoßrichtung bestimmt. Details dazu wurden unter anderem ab 1985 durch Aussagen von Hugo Baar bekannt, nachdem er – als einstiger Mitbegründer – im Dezember 1984 aus der Coloniaanlage geflohen war.
In der Endphase der Pinochet-Diktatur ab 1988 leitete die Colonia Dignidad eine umfassende Umstrukturierung zur Nachfolgeorganisation „Villa Baviera“ (Bayerisches Dorf) ein. Mit diesem Zug schützte sie sich vor der Auflösung. Ländereien und Besitz der Siedlung wurden mittels einer undurchsichtigen Holding in mehrere geschlossene Aktiengesellschaften überführt. Die Holding besteht in abgewandelter Form bis heute (2023). Der Autor Jan Stehle listete in seinem 2022 erschienenen Buch Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020 insgesamt 23 Unternehmen auf, die zu der Holding gehören, darunter Tourismus-, Landwirtschafts- und allein acht Immobilienunternehmen. Die Repräsentanten der Firmen sind insgesamt weniger als zwanzig Personen, meist Nachfahren von Mitgliedern der früheren Führungsgruppe. Sie verfügen damit weiterhin über das Vermögen der Sekte.
Die Regierung Chiles unter Präsident Patricio Aylwin entzog der Organisation im Jahr 1991 den Status der Gemeinnützigkeit, mit der sie stets von Steuerfreiheit profitiert hatte, und löste sie damit formal auf. Zudem erkannte sie die deutschen Abschlüsse des Krankenhauspersonals nicht mehr an und ließ das Krankenhaus schließen. In das Jahr 1991 fällt auch die Umbenennung der Colonia Dignidad in Villa Baviera/„Bayrisches Dorf“ durch Schäfer, die dieser als Hommage an seinen Freund Franz Josef Strauß vornahm.
Schäfer erreichte durch Mobilisierung der lokalen Bevölkerung die Wiedereröffnung des Krankenhauses und öffnete in den Folgejahren die Kolonie für Wochenend- und Ferienaufenthalte chilenischer Kinder. Im Jahr 1996 zeigten chilenische Eltern Paul Schäfer wegen sexuellen Kindesmissbrauchs an. Daraufhin wurde er per Haftbefehl und mittels Razzien gesucht, und Schäfer tauchte unter, andere aus seinem Umfeld flüchteten vor der chilenischen Justiz ins Ausland. Die Colonia wurde danach zunächst von verschiedenen Vertrauten Schäfers geleitet. Alle Versuche des demokratischen Chile, die Kolonie unter Kontrolle zu bekommen, scheiterten bis zur Festnahme Schäfers im Jahr 2005. Als Gründe werden Verflechtungen mit Pinochet-Anhängern, der vor Ort ansässigen Polizei und lokal Mächtigen und die Unüberschaubarkeit des riesigen Areals genannt.
1997 gelang zwei Jugendlichen aus der Colonia die Flucht nach Deutschland; deutsche Medien veröffentlichten deren authentische Schilderungen.
Als letzte historische Phase beschreibt der Politikwissenschaftler Jan Stehle den langsamen Öffnungsprozess ab der Verhaftung Paul Schäfers im Jahr 2005, nachdem chilenische Familien, deren Kinder der Sektenchef in der Villa Baviera vergewaltigt hatte, ab 1996 Anzeigen gegen ihn erstattet hatten.
Als quasi kriminelle Organisation beging die Gemeinschaft betrügerische Adoptionen und Sexualverbrechen an chilenischen Kindern aus der ländlichen Gegend um Colonia Dignidad. Kinder und Jugendliche der eigenen Bewohner wie auch der Bauernfamilien aus der Gegend wurden in der Gemeinschaft immer wieder sexuell missbraucht, vor allem Jungen unter sexuellem Aspekt körperlich gezüchtigt und die Kinder mit Elektroschocks und Psychopharmaka misshandelt.
Protegiert von der chilenischen Pinochet-Diktatur machte sich die Colonia Dignidad zu deren Instrument. Die Kolonie wurde während der Diktatur als Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes genutzt. Folter und Mord an politischen Gefangenen zwischen 1973 und 1990 sind mannigfach belegt. In der Colonia Dignidad gefangen gehaltene Chilenen wurden als Zwangsarbeiter eingesetzt. Es wurden medizinische Versuche an Häftlingen durchgeführt. Bekannt wurde auch, dass in der Kolonie Häftlinge ermordet und im Waldgebiet verscharrt worden waren und dass die Sektenführung die Reste später hatte ausgraben und entsorgen lassen. Die Colonia war auch in der Waffenproduktion und dem Waffenhandel aktiv.
Man kann es - glaube ich - schon so sagen: Der hat
gar nichts ausgelassen...